#berlin_out Wir dokumentieren eine Presseerklärung der Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, ReachOut:
"*Berlin, 9. Januar 2023*
*ReachOut, die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt warnt bezüglich der aktuellen Debatten zu den Geschehnissen in der Silvesternacht in Neukölln vor einer rassistischen Eskalation und einer Instrumentalisierung des Themas im Berliner Wahlkampf.*
Nahezu regelmäßig werden in Berlin und anderswo rassistisch geprägte Debatten angestoßen. Der Anlass ist austauschbar. Die Gefahr, dass in Folge dessen die rassistische Gewalt zunimmt, darf nicht unterschätzt werden.
Ein trauriges Beispiel dafür ist der Anschlag in Hanau, am 19. Februar 2020. Vorangegangen waren permanente öffentlichkeitswirksamen Kontrollen in Shishabars, u.a. in Neukölln und die Kriminalisierung der Betreiber*innen und der Besucher*innen.
Die Sitzung des Innenausschusses im Berliner Abgeordnetenhaus am 9. Januar und die Medienberichte der vergangenen Woche macht eines deutlich: Wie schnell doch schon jetzt klar zu sein scheint, wer die vermeintlichen Täter*innen in der Silvesternacht waren, welcher Herkunft und wie alt sie sind und aus welchen sozialen Verhältnissen sie kommen. Politiker*innen, (selbsternannte) Expert*innen und Psycholog*innen fühlen sich ganz unabhängig von ihrer Kompetenz berufen, ihre Erklärungen und Analysen zu Besten zu geben, ohne überhaupt über seriöse Informationen zu den Geschehnissen zu verfügen. Verwirrende Zahlen zur Anzahl und Herkunft der Festgenommenen wurden von den Ermittlungsbehörden schnell veröffentlicht. Warum wurden diese Zahlen eigentlich bekannt gegeben, bevor eine seriöse Ermittlungsarbeit begann? Erst am vergangenen Wochenende hat die Polizei andere Zahlen genannt: 38 Personen, davon zu 2/3 Deutsche wurden nach Böllerangriffen auf Polizist*innen und Feuerwehrleute festgenommen.
Auch in anderen Berliner Stadtteilen wie Kreuzberg, Lichtenrade, Alt Hohenschönhausen, Charlottenburg, Treptow und Mitte und in anderen Städten kam es in der Silvesternacht zu Auseinandersetzung mit Polizei und Rettungskräften. Dies ist jedoch nur eine weitere Randnotiz, die in die rassistische Debatte zu Neukölln nicht so recht passen will.
Neukölln hat laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg insgesamt 327.073 Einwohner*innen. Der Anteil der Neuköllner*innen mit einem sogenanntem Migrationshintergrund beträgt 153.151 Personen. Es ist banal, dass die Menschen, die in Neukölln leben, auch in der Silvesternacht auf der Straße sind. Gleichzeitig so zu diskutieren, als seien Neuköllns Bewohner*innen eine homogene Gruppe, ist einfach absurd. Dagegen sprechen schon allein die enormen Mietpreissteigerungen, die sich diejenigen, die über ein geringes Einkommen verfügen und sozial benachteiligt sind, schon lange nicht mehr leisten können.In der sächsischen Kleinstadt Borna waren "Sieg Heil" schreiende Neonazis unterwegs, zündeten Böller und griffen Polizist*innen an. Eine bundesweite Empörung darüber bleibt aus.Am 8. Januar wurden Rettungskräfte in Hellersdorf mit Böllern angegriffen. Die Nationalität der Täter*innen erfahren wir in der Polizeimeldung zum Glück nicht. Sowieso findet die Herkunft von Täter*innen nur dann ausdrückliche Erwähnung , wenn es sich bei den Verdächtigen um Personen mit einer vermeintlichen Migrationsgeschichte handelt.
Einige in unserem Team können sich noch sehr gut an die Silvesternächte der achtziger, neunziger und zu Beginn der 2000er Jahre in Berlin erinnern. Auch damals gehörte es an Silvester und den Tagen davor dazu, mit Böllern gezielt Menschen zu beschießen, Böller in U-Bahnhöfen und in U-Bahn-Wagen zu zünden, von Balkon zu Balkon zu schießen etc.. Das war und ist schon immer gefährlich. Ganz gleich, wer da Menschen in Gefahr bringt, ganz gleich ob die Betroffenen Uniform tragen oder nicht. Zum Abbau von Frust, Wut, und Aggressionen überhaupt, war die Silvesternacht schon immer gut. Und nicht nur in Berlin, nicht nur an Silvester kommt es seit Jahren zu Auseinandersetzungen mit Polizei und Feuerwehr. Erinnert sei an all die Gaffer, die den Rettungswägen den Zugang zu Verletzten versperren und aggressiv werden, wenn sie ihre Handyfotos nicht machen dürfen.
Der Unterschied zur aktuellen Debatte: Sie konzentriert sich auf diejenigen, die als nicht dazu gehörig definiert werden. Sabine Seyb, Mitarbeiterin von ReachOut: "Es ist immer wieder der gleiche Reflex, der da zum Tragen kommt. Solange aber unterschieden wird in ein vermeintliches "Wir" (weiße Personen) und die "Anderen" (Schwarze, migratische, People of Color) werden sich diejenigen, die aus rassistischen Motiven zuschlagen in ihrem Handeln bestätigt fühlen können." Uns stellt sich aufgrund unserer Erfahrungen in der Beratung von Opfern rassistischer Polizeigewalt und Racial Profiling aber auch die Frage, auf wen sich die Einsatzkräfte bei ihren Festnahmen konzentriert haben. Inwiefern hat hier auch Racial Profiling und das Alter der Festgenommenen eine Rolle gespielt? Männliche Jugendliche und junge Erwachsene, die als nicht-weiß gelesen werden, sind besonders häufig Opfer von Racial Profiling. Sie haben allzu oft seit ihrer Zeit in Kita und Schule Erfahrungen machen müssen mit Stigmatisierung, mit rassistischem Mobbing, Ausgrenzung und Diskriminierung.
"Das Spekulieren über die Herkunft der vermeintlichen Täter*innen ist brandgefährlich. Notwendig ist stattdessen die konsequente Durchsetzung von gleichen Chancen und Rechten für Alle, ganz unabhängig davon, wie alt sie sind und woher sie selbst, ihre Eltern oder Urgroßeltern kommen. Zu den lange überfälligen Maßnahmen gehört auch ein systematische Vorgehen der Behörden gegen Racial Profiling", so Sabine Seyb.
Bei dem gegenwärtigen Analyseeifer, den wahlkampfbedingten versprochenen Maßnahmen und vor allem den polizeilichen Ermittlungen einschließlich eines anonymen Hinweisportals, stellen wir uns vor, es hätte ähnlich umfassende Aktivitäten der Strafverfolgungsbehörden und der Politiker*innen auch aufgrund der Anschläge in Neukölln und des Mordes an Burak Bektaş gegeben. Es ist dringend notwendig, dass die Hierarchisierung der Opfer und die daraus folgenden rassistisch geprägten Ermittlungen aufhören.