Seit Ende März werden in Tschetschenien (vermeintlich) schwule Männer verhaftet (bisher wohl etwas mehr als 100) und in Geheimgefängnisse gebracht, wo sie gefoltert werden. Einige wurden dort auch getötet, in einigen Fällen auch von ihren Familien nach der Freilassung umgebracht. Mit Hilfe russischer LGBT-Organisationen oder auf eigene Faust fliehen Betroffene aus dem Land oder versuchen sich vor Ort zu verbergen. Vor mehr als einer Woche fragte ein Abgeordneter des britischen Parlamentes, wie die Regierung in London auf diese Verfolgungswelle zu reagieren gedenke. Denn viele Betroffene suchen und benötigen Asyl in Westeuropa. In seiner Antwort auf die Frage erklärte der britische stellvertretende Außenminister Alan Duncan, dass dem Außenministerium Informationen vorlägen, dass der tschetschenische Diktator die lokale LGBT-Szene bis Ende Mai liquidieren wolle. Auf diese Aussage stützen sich aktuell diverse Blog-Meldungen, Tweets etc. die die Situation in Tschetschenien nun auch im deutschsprachigen Raum skandalisieren.
Wenn man der Meldung hinterherrecherchiert ergeben sich heute (30. April 2017, 21.00 Uhr) folgende Fakten: Dass britische Außenministerium bezieht sich auf ein tschetschenisches russischsprachiges Medium, dem gegenüber Kadyrow erklärt habe, dass er die LGBT-Szene (wahrscheinlich sprach er von Schwulen, die Verfolgung richtet sich im Moment ausschließlich gegen homosexuelle Männer und solche, die dafür gehalten werden) bis zum Ramadan liquidiert haben werde. Der Ramadan beginnt am 26. Mai. Auch die russischsprachige Berichterstattung bezieht sich bisher auf die Aussagen aus dem britischen Außenministerium. Die russische Novaya Gazeta, die in den letzten Wochen den Umfang und die Brutalität der Schwulenverfolgung in Tschetschenien aufgedeckt hat und auf deren Artikel sich alle Berichte darüber in westlichen Medien stützen, hat dazu noch keine eigenen Recherchen veröffentlicht.
Somit ist unklar, was an der Aussage Kadyrows dran ist, ob er eine Intensivierung der Verfolgung in den nächsten Wochen angekündigt hat, die tatsächlich auf die physische Liquidation aller Schwulen abzielt oder sich einfach affirmativ auf das derzeitige Geschehen bezieht. Beides ist in der gegenwärtigen Situation denkbar.
Doch es benötigt eigentlich keiner martialischen Ansagen Kadyrows mehr: Eine LGBT-Szene wird es in Tschetschenien so bald nicht geben. Das Ausmaß und die Brutalität der Verfolgung der letzten Wochen, die so nur mit (mindestens) Wissen des Diktators stattfinden konnte, reicht völlig aus, um noch auf Jahre alle Schwulen in dem Land in Angst und Schrecken zu versetzen, ihnen das Exil oder ein Leben in tiefstem Untergrund und Selbstverleugnung aufzuzwingen. Dass die tschetschenische Gesellschaft durchgehend brutalisiert und islamisiert ist, die wichtigste Opposition gegen den Diktator Gruppen vom Schlage des IS sind, ist der Hoffnung auf eine Besserung der Lage in absehbarer Zeit nicht zuträglich. °tmred