"Ein Wissen, dass schon immer da war, aber immer wieder unwahrnehmbar, unhörbar gemacht werden sollte."

Wir dokumentieren, etwas verspätet, eine gemeinsame Rede von der Nürnberger Demonstration "Gegen Deutschland und seine Nazis. Wer aber vom Rassismus nicht reden will, sollte auch vom NSU schweigen" am 19. September 2015:

Demonstrationen in Nürnberg „Vor 15 Jahren“
Als Enver Şimşek vor 15 Jahren vom Nationalsozialistischen Untergrund erschossen wurde, wusste seine Familie – Tochter, Sohn und Ehefrau wie auch weitere Angehörige – dass diese Tat nur einen rassistischen Hintergrund gehabt haben kann. Dieses Wissen teilten sie den ermittelten Beamten mit.

Vor 15 Jahren sollte dieses Wissen nicht wahrgenommen werden.
Vor 15 Jahren handelte niemand danach.

Stattdessen wurden die Angehörigen unter Druck gesetzt. Die Beamten arbeiteten gründlich und ermittelten einseitig im Umfeld der betroffenen Familie und ihrer Community. Sie erfanden Geschichten, um die Angehörigen unter Druck zu setzen. Sie verdächtigten die Angehörigen und machten mit ihrer perfiden, rassistischen Praxis die Opfer zu Tätern.
Noch lange Zeit nach dem rassistischen Mord durften die Angehörigen nicht Opfer sein, nicht trauern um den Einen. Um den einen Vater, Ehemann, Bruder, Sohn oder Freund. Um
Enver Şimşek,
Abdurrahim Özüdoğru,
Süleyman Taşköprü,
Habil Kılıç,
Mehmet Turgut,
İsmail Yaşar,
Theodoros Boulgarides,
Mehmet Kubaşık
und Halit Yozgat.

So blieben die Angehörigen in ihrer Trauer allein, ihr Wissen ungehört. Denn, dass es sich um eine rassistische Mordserie handeln müsse, darauf haben die Betroffenen selbst immer wieder hingewiesen. Dass der Hintergrund aus dem Umfeld der Betroffenen benannt wurde, ist nicht etwa ein Zufall. Vielmehr verweist es auf ein Wissen, das sich aus einer bestimmten gesellschaftlichen Position heraus generiert. Es ist ein migrantisch situiertes Wissen. Nicht zuletzt die Erfahrung wiederkehrend als fremd markiert zu werden und das Erleben von Ausgrenzungssituationen, eben der Erfahrung des „alltäglichen Rassismus“, macht die davon Betroffenen selbst zu Expert_innen der Funktionsweise von Rassismus. Aber die Äußerung genau dieses Wissens wurde im Rahmen der „Aufklärung“ der NSU-Mord und Anschlagserie meist ignoriert, teils sogar unterbunden. Dabei hätte es frühzeitig ein Schlüssel zur Aufklärung sein können.

Nach dem Mord an dem Kasseler Halit Yozgat im April 2006 organisierten einige der betroffenen Familienangehörigen zunächst in Kassel und wenig später in Dortmund einen Trauerzug „Kein 10. Opfer“. Diese Trauerzüge fanden zu einem Zeitpunkt statt, als noch alle Ermittlungsbehörden einseitig die Familien und Betroffenen verdächtigten. An der Demonstration in Kassel nahmen über 4.000 Personen teil. Die Teilnehmer_innen dieser Kundgebung trugen ein gemeinsam geteiltes, migrantisches Wissen öffentlich auf die Straße: Auf den Videoaufnahmen von der Demonstration in Kassel und Dortmund sind neben dem Banner „Kein 10. Opfer“ Plakate mit der Forderung nach der Aufklärung der „rassistischen Morde“ sichtbar. Mit den Transparenten, Plakaten und in den Redebeiträgen wurden der deutsche Staat und die politisch Verantwortlichen adressiert. Von vielen Öffentlichkeiten wurde diese Demonstration kaum bis gar nicht wahrgenommen und blieb eine fast migrantische Angelegenheit.

Obwohl die betroffenen Familien der Mordserie sowie die Betroffene des Bombenanschlags in der Keupstraße unabhängig von einander äußerten, dass für diese Taten nur deutsche Neonazis in Frage kommen können, setzten die Behörden – wie bei Enver Şimşek begonnen –ihre rassistische Ermittlungen wie abgesprochen fort. Verdächtigt wurden immer nur die Hinterbliebenen der Mordopfer und deren Umfeld. Zu dem Schmerz des Verlusts eines geliebten Menschen, gesellte sich ein weiterer Schmerz, der gespeist wurde aus der Erfahrung von Diffamierung, Stigmatisierung und Isolation.

Nur kurze Zeit nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 widmeten sich PolitikerInnen der Bundesregierung den Betroffenen der NSU-Morde und der Bombenanschläge. Sie wurden zunächst von der Kanzlerin Merkel und dann von Bundespräsident Gauck eingeladen. Sie wurden als Statisten Teil einer bundesdeutschen Repräsentationspolitik präsentiert. Dabei blieben aber ihre Perspektiven, Analysen, ihr Wissen und ihre Forderung randständig und verhallten in dem Rahmen schnell. Statt diesen Stimmen ein Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen, wurden salbungsvolle Reden gehalten, die die Wunden und den Schmerz der Betroffen nicht stillen können.

Mit Beginn des Strafprozesses vor dem Oberlandesgericht in München wurde deutlich, dass auch hier den Betroffenen kein angemessener Raum für ihre Erfahrungen und ihr Wissen zugeteilt wurde. Sobald die Betroffenen aktiv wurden und den institutionell-strukturellen Rassismus anklagten, wurden sie auch im Gerichtsaal harsch angefahren. Auch am Tag X legten die Betroffenen des Nagelbomenanschlags in der Keupstraße, die als Nebenkläger*innen aktiv wurden – wie bereits die Angehörigen der Mordserie – nicht nur ein Zeugnis über die Erfahrung des traumatischen Attentat-Erlebnisses ab, sondern sie beklagten auch die skandalöse Behandlung durch die Ermittlungsbehörden und verwiesen damit auf einen strukturellen Rassismus.

Das bundesweite Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen setzt sich aus Initiativen der betroffenen Städte Köln, Kassel, Nürnberg, München, Hamburg, Rostock sowie aus Mölln und Berlin zusammen. Unsere Arbeit und Haltung geht über eine bloße Solidarität hinaus: wir verbinden uns mit den Betroffenen und ihrer Perspektive, um ein migrantisches Wissen zu heben und zu kanonisieren. Ein Wissen, dass schon immer da war, aber immer wieder unwahrnehmbar, unhörbar gemacht werden sollte.

Wir – die Initiativen im Bundesweiten Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen – sind zu der Überzeugung gelangt, dass es eine gesellschaftliche Antwort auf diese Problemstellung geben muss. Es braucht eine öffentliche, gesellschaftlich-politische Anklage, damit der Täterkreis des NSU-Terrors mit dem zugrunde liegenden institutionell-strukturellen Rassismus sichtbar gemacht wird. Die Perspektive der Betroffenen ist in dieser Auseinandersetzung zentral.

Vor 15 Jahren sollte dieses Wissen nicht wahrgenommen werden.
Vor 15 Jahren handelte niemand danach.

Es ist an uns, heute nach den nötigen gesellschaftlichen Druck zu erzeugen, damit diese starke Position gehört wird und zu ihrem Recht gelangt.

für das Bundesweite Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen
Bündnis gegen Naziterror und Rassismus, München
Initiative Keupstraße ist überall, Köln
Das Schweigen durchbrechen, Nürnberg
Freundeskreis im Gedenken an den rassistischen Brandanschlag Mölln 1992, Hamburg
Initiative 6.April, Kassel
Lobbi e.V. Rostock
Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak B., Berlin
NSU Arbeitsgruppe, Berlin
Andere Zustände ermöglichen, Berlin
Bündnis gegen Rassismus, Allmende e.V. Berlin

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