"Wenn die Leute nicht mehr ihre Alltäglichkeit leben können, beginnt eine Revolution."
Henri Lefebvre (1968)
Alltag. Gibt es etwas normaleres als den Alltag in der Hamburger Innenstadt? Alles ist wie
immer an seinem Platz. Alles folgt den Gesetzen des Warentauschs: Die Schaufenster laden zum
Bummeln ein, die KonsumentInnen erwerben Waren und Obdachlose erfragen etwas Geld. Ein
permantenter Kult ohne Priester und Glaubensbekenntnis. Für seine Durchführung müssen weder
Zwang noch Kontrolle ausgeübt werden: Alle sind gläubig. Im Kult der Zerstreuung wiederholen
die KonsumentInnen rituell die immer gleichen Gesten und Bewegungen: Flanieren, am Schaufenster
stehen bleiben, den Laden betreten und mit einer Plastiktüte wieder herauskommen, weitergehen.
Wer sich konform verhält, hat Anteil am Glück, das der Warentausch verspricht: Eigentum.
Unterbrechung. Gelegentlich wird diese Normalität unterbrochen: Der Verkehr stockt und politische
Meinungen werden auf der Straße kund getan. Aber diese Momente werden seltener und sind zur
Weihnachtszeit ausgeschlossen: Als vor zwei Jahren anläßlich der Räumung des Bauwagenplatzes
Bambule verstärkt versucht wurde, den innenstädtischen Raum zu politisieren, wurde keiner einzigen
Demonstration erlaubt, den Weg durch die Mönckebergstraße zu nehmen. Das Interesse des
Einzelhandels war wichtiger als das Recht auf Demonstration, Umsatz war wichtiger als Politik.
Ritual. Demonstrationen sind Rituale mit eigenen Normen und Regeln. Das bedarf keiner Kritik:
Sie haben ihre wichtige Funktion als Artikulation politischer Abweichung immer wieder von neuem
bewiesen. Doch bleibt die Frage, ob sie als sichtbare Unterbrechung der alltäglichen Normalität
nicht die Normalität des Warentauschs trotz dessen politischer Kritik bestätigen. Manche
Transparente werben für eine bessere Welt als ließe sich diese kaufen. Unterdrückte Völker
werden wie Marken aufgebaut, mit denen es sich zu identifizieren gilt. Der Warenfetisch wird
durch den Fetisch des linken Opferkults ergänzt.
Demonstration. Gründe, auf die Straße zu gehen, gibt es genug. Nachdem der rechtspopulistische
Senat in Hamburg den Weg für einen rechten Senat geebnet hat, wird die rot-grüne Politik der
Stadtentwicklung - die Politik der Aufwertung und der Ausgrenzung - repressiv forciert.
Bauwagenplätze - die letzte kollektiv abweichende Nutzung städtischen Raums - werden geräumt,
ihre BewohnerInnen vertrieben. Unter dem Motto Metropole Hamburg - Wachsende Stadt beschleunigt
der Senat die Verwertung, Zonierung und Privatisierung urbaner Räume: Keine zweideutigen Räume
mehr! Ein Raum - eine Funktion!! Nach dem Modell Hauptbahnhof wird ab Januar durch den Business
Improvement District (BID) ein neues Instrument geschaffen, mit dem Geschäftsleute die
Gestaltung öffentlicher Räume bestimmen können: Straßen, in die keine Demonstration mehr passt.
Staatliche Kontrolle und private Interessen finden so in einer Public-Private-Partnership zusammen.
Repression. Gleichzeitig wird für die Kontrolle des verbleibenden öffentlichen Raums nachgerüstet.
Die CDU Bürgerschaftsfraktion hat Maßgaben für ein neues Polizeigesetz entwickelt, deren Umsetzung
angesichts der Kräfteverhältnisse in der Stadt nichts im Wege steht. Gemeinsam ist allen
vorgesehenen Maßnahmen, die Schwellen für den Einsatz der Polizei zu senken. So soll etwa der
Unterbindungsgewahrsam auf bis zu 14 Tage verlängert werden für Leute, die verdächtigt werden,
eine Straftat vollbringen zu wollen. Will die Polizei in Zukunft jemanden von der Straße haben,
etwa im Vorfeld von Demonstrationen, braucht sie der Person also nur die Absicht zur Straftat
anzudichten, um eine entsprechende Anordnung vom Gericht zu bekommen. Zur Rechtfertigung einer
einfachen Personenkontrolle ist nicht einmal mehr ein konkreter Verdacht vonnöten: Will die Polizei
mal schauen, was wer so in der Tasche hat, braucht sie nur "tatsächliche Anhaltspunkte" zu haben,
eine Straftat verhindern zu können. Wer wird im nachhinein beweisen können, dass die Anhaltspunkte
nur Vorwand waren? Durch die Novellierung des Gesetzes wird Projektion als Grundlage polizeilichen
Handels rechtlich abgesichert. Vorraussetzung für das Eingreifen ist nicht mehr das Handeln von
irgend jemandem, sondern der angenommene Wille zur bösen Tat oder die Anwesenheit am falschen
Platz zur falschen Zeit. Damit gilt im öffentlichen Raum wie in den privatisierten Zonen: nur wer
sich unauffällig verhält, darf bleiben. Die anderen holt die Polizei.
Kritik. Wir fordern nicht, dass diese Entwicklungen zurückgedreht werden: Früher war nichts besser.
Vielleicht läßt sich im Aufhalten der ein oder anderen Entwicklung ein Freiraum wie ein Bauwagenplatz
erhalten, der praktische Kritik ermöglicht. Das ist gut. Besser wäre selbstverständlich, wenn die
Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung sich zersetzt hätte, die Ökonomie des Eigentums
verschwunden wäre und der Phallogozentrismus alltäglich zerstreut würde. Bis dahin bleibt, in der
Grauzone zwischen öffentlichen und privaten Räumen politisch handlungsfähig bleiben: ihre Ambivalenz
zu genießen und Modelle der Aneignung zu erproben.
Anomalie. Die Stadtentwicklung bewirkt, dass kein anderer Alltag als der herrschende vorstellbar ist.
Konsum ist normal, die einzelne Abweichung ist normal. Eine Abweichung lässt sich polizeilich
kontrollieren. Was aber passiert, wenn die Abweichung massenhaft wird? Was passiert, wenn die
zerstreute Wiederholung der Gesten mit einem Mal ausfällt und durch eine gleichzeitige Zerstreuung
anderer Gesten ersetzt werden? Was passiert, wenn die anomale Geste zur Regel und die normale Geste
zur Ausnahme wird? Die alltäglichste Geste kann anomal werden, wenn sie von vielen gleichzeitig,
zerstreut und ohne sichtbare Absprache durchgeführt wird: Immer gehen alle vorwärts, warum also
nicht mit vielen anderen rückwärts gehen? Immer verhalten sich alle unverdächtig, warum also sich
nicht mit vielen anderen verdächtig verhalten? Alle kaufen Scheiß, warum also nicht Radio hören?
Alle folgen dem Kult des Warenfetischs, warum also nicht den Kult der Zerstreuung ?