Aus Anlaß des Sonderausschuss am Donnerstag, verbunden mit der Feststellung "Die Behörden kamen mit ihrer Taktik durch, eigenes Fehlverhalten nur einzuräumen, wenn es nicht zu leugnen war" – Quelle: https://www.shz.de/20679597 ©2018" dokumentieren wir: "Ist der Rechtsstaat intakt?" von Dietmar Wolf, erst veröffentlicht von telegraph_cc.
Der Text unternimmt höchst interessante Vergleiche zur Rechtsstaatlichkeit in der ehemaligen DDR und beschreibt historische Etappen von Kriminalisierung politischen Protests im vereinigten Deutschland.
Ist der Rechtsstaat intakt?
von Dietmar Wolf
Am ersten August 2018 berichtete der Kölner Stadt-Anzeiger über ein Gerichtsurteil gegen eine Umwelt-Aktivistin, die an einer Protestaktion gegen die Abholzung des Hambacher Forst teilnahm. Laut Kölner Zeitung wurde sie zu neun Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt, weil sie angeblich und nach Auffassung des Richters, eine Gruppe von Aktivisten, die Böller auf Bundespolizisten warfen, „trommelnd unterstützte“. [1] Dabei war es für den Richter unerheblich, dass sie selbst gar kein Böller geworfen hatte.
Der Hambacher Forst ist ein Wald in NRW, der beginnend 1978 dem sich weiter ausbreitenden Braunkohletagebau des Strom-Konzerns RWE durch Rodung weitgehend zum Opfer fiel. Seit 2012 versuchen Aktivist_innen kontinuierlich mit Teilbesetzungen des Waldes und diversen Aktionen des zivilen Ungehorsams, die weitere Abholzung zu verhindern und für einen Kohleausstieg zu protestieren. Der Staat wiederum reagierte stets mit Mitteln polizeilicher Gewalt, Festnahmen, Verfahren und wie auch im jüngsten Fall, mit Verurteilungen.
Die Umwelt-Aktivistin wurde am 19. März 2018 bei einem Polizeieinsatz im Hambacher Forst vorläufig festgenommen und am folgenden Tag in Untersuchungshaft in die JVA Köln gebracht. Nach vier Monaten U-Haft eröffnet das Amtsgericht Kerpen am 24. Juli 2018 einen Prozess gegen die Aktivistin:
Der Angeklagten wird nach §125a StGB ein besonders schwerer Fall des Landfriedensbruches und §224 StGB versuchte gefährliche Körperverletzung mittels Pyrotechnikeinsatz vorgeworfen. Haftgrund ist die Fluchtgefahr, da die Beschuldigte ihre Personalien verweigert und für das Gericht anhand der Sprachbarrieren erkennbar nicht aus Deutschland und nicht sicher aus der EU stamme. So soll durch die U-Haft die Durchführung des Strafverfahrens gesichert werden. [2]
Bereits am 31. Juli 2018 verkündete das Gericht das Urteil: 9 Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung.
„Das Gericht sah die Straftatbestände des Landfriedensbruchs und der Beihilfe zur versuchten gefährlichen Körperverletzung als erwiesen an. Das Strafmaß sei schuldangemessen, solle aber auch ‚generalpräventiven Charakter‘ haben und ein Zeichen gegen weitere Straftaten im Hambacher Forst setzen, sagte Richter Peter Königsfeld in der mündlichen Begründung des Urteils. Die Angeklagte hatte selbst nichts geworfen, aber eine Gruppe von Aktivisten, die Böller auf Bundespolizisten warfen, ‚trommelnd unterstützt‘, so Amtsgerichtsdirektor Joachim Rau.“ [3]
Am 7. und 8. Juli 2017 fand in Hamburg der sogenannte G20-Gipfel der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer statt. Mit verschiedenen Kundgebungen, Demonstrationen, Blockaden und Veranstaltungen brachten Zehntausende ihren Protest gegen diesen Gipfel zum Ausdruck. Dagegen und zum Schutz der Gipfelteilnehmer_innen wurden 31.000 Polizisten und Sondereinsatzkommandos, teilweise mit Maschinenpistolen und Gummigeschossen bewaffnet, sowie ein riesiges Areal an Einsatzfahrzeugen, Räumpanzern, Wasserwerfern und Hubschraubern eingesetzt. Es gab eine massive Video- und Datenüberwachung aller Gipfelgegner_innen, und das bereits im Vorfeld und während der Anreise. Das gedrehte Videomaterial und die gesammelten Daten der Behörden bewegen sich im mehrfachen Terrabytebereich. Mit zum Teil brachialer, unangebrachter Gewalt ging die Polizei gegen verschiedene Demonstrant_innen vor. Es kam zu massenhaft dokumentierten Verstößen gegen das Demonstrationsrecht durch die Polizei, zu unzähligen leichten und schweren Verletzungen an Demonstrant_innen. Bei Fällen von Gewalt aus den Demonstrationszügen wurde seitens der Polizei, der Staatsanwaltschaft sowie auch der Gerichte ein Prinzip angewandt, das nicht nur jene Gewalt ausübende Personen zu Straftätern erklärt hat, sondern jeweils den gesamten Demonstrationszug. Es wurde unterstellt, dass per se alle Gipfelgegner_innen potentielle bzw. tatsächliche Straftäter sind. Die grundsätzliche Eindämmung oder gar Verhinderung von Protest mit allen Mitteln war das Ziel. Die Hamburger Politik und speziell der damalige Oberbürgermeister Olaf Scholz (SPD) drängte wiederholt und mit Vehemenz auf eine schnelle und rigorose gerichtliche Aburteilung von so vielen “Straftätern“ wie nur möglich. Ein besonders markanter und exemplarischer Fall dafür ist Fabio V.
Der Fall Fabio V. Der damals 18 Jährige Italiener wurde als Teilnehmer einer Demonstration auf der Industriestraße Rotenburg am 07. Juli 2017 zusammen mit weiteren 75 Demonstrant_innen, festgenommen, nachdem die Polizei diese mit zwei Hundertschaften und brachialer Gewalt sprengte. Die Staatsanwaltschaft klagte Fabio V. wegen versuchter Körperverletzung, tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte und schweren Landfriedensbruchs an. Er saß fast fünf Monate in Untersuchungshaft. Obwohl die Staatsanwaltschaft dem jungen Mann keinen der Vorwürfe nachweisen konnte und anhand der Beweisaufnahme schnell klar war, dass Fabio V. keine Straftat begangen hatte und sich als Teil der Demonstration wahrscheinlich im hinteren Bereich aufgehalten hatte, beharrte die Anklage auf eine Verurteilung.
Nach dem Gipfel sowie den Gegenprotesten wurde eine Sonderkommision „Schwarzer Bloch“ eingerichtet: in der „bis zu 170 Ermittler arbeiten an hunderten Verfahren gegen militante Demonstranten und Menschen die sich an Ausschreitungen und Plünderungen beteiligten. Harte Strafen wurden gefordert und in bisher über 40 Fällen auch verhängt. Der Staat verlor im Sommer 2017 die Kontrolle in Hamburg und versucht sie nun zurückzugewinnen. ‚Mit allen Mitteln‘, war selten so wörtlich zu nehmen wie im Fall der G20-Verfahren. Eine Öffentlichkeitsfahndung von noch nie dagewesenem Ausmaß stellte über zweihundert Menschen mit vagen Verdachtsmomenten ‚an den Pranger‘ und die Boulevard-Presse ‚spielte den Hilfssheriff‘. 30 Wohnungen und Häuser wurden mit hoch bedenklichen Begründungen durchsucht und ein linkes Medienportal vom Innenminister verboten.“
Prävention durch Abschreckung?
Für den aufmerksamen Beobachter drängen sich hier unweigerlich Parallelen zu ähnlich gelagerten Fällen nach den G20 Protesten in Hamburg auf und mehr und mehr tritt ein Muster zu Tage.
Es stellt sich die Frage: Sieht so der hochgelobte demokratische Rechtsstaat aus? Was unterscheidet diese, offenbar politisch motivierte, Justizwillkür noch von den Ländern und Regierungen, denen hier von allen Seiten und ununterbrochen Unrecht und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Und selbst einem historischen Vergleich mit der DDR hält dieses Urteil nicht stand.
Als die chinesische KP am 4. Juni 1989 die monatelangen Proteste der studentischen Demokratiebewegung auf dem Tian’anmen-Platz vom Militär niederschlagen und massakrieren ließ [4], organisierte die DDR-Oppositionsbewegung ein wochenlanges Protesttrommeln in verschiedenen Städten. Zu so einem Protest-Trommeln reiste ich damals nach Dresden. Ich war damals 24 Jahre alt und gehörte bereits einige Jahre dem linken Flügel der DDR-Oppositionsbewegung an. Nach dieser Aktion in der Dresdener Kreuzkirche wurde ich und andere Aktivist_innen von der Volkspolizei verhaftet, über mehrere Stunden festgehalten und vom MfS verhört. In Folge dessen erhielten ich und andere Verhaftete Ordnungsstrafbeschlüsse über bis zu 1.000 DDR-Mark wegen Störung des sozialistischen Zusammenlebens bzw. Ruhestörung durch Schlagen auf eine Trommel. Letztendlich aber wurden diese Strafbeschlüsse nie eingetrieben. Was uns damals empörte und als Ausdruck undemokratischer Repression des DDR-Staates angesehen wurde, erscheint mir allerdings heute, im Vergleich zu der drakonischen Strafe gegen die Umwelt-Aktivistin vom Hambacher Forst aber schon fast als Lappalie. Zumal die Ordnungsstrafbefehle damals nie eingetrieben wurden.
Während eines jüngst geführten Diskurses mit einem Bekannten, meinte dieser, dass in unserem (und er meinte wohl eher in seinem) Land, der demokratische Rechtsstaat zum Glück intakt sei. Und das gelte auch für die anderen westlichen Demokratien. Selbstredend auch für die USA. Denn da könne Trump ja eben nicht so, wie er gerne wolle. Und das wäre ja ganz anders, als zum Beispiel in Polen, Ungarn, Russland, Syrien, Türkei, China, Nord-Korea, oder Kuba. Letztendlich, so mein Gegenüber, würde ich mit diesem Vergleich das Unrecht der DDR relativieren. Und genauso würden auch die Rechten und russische Trolle argumentieren.
Doch tatsächlich ist diese Behauptung nur eine Umkehr der Tatsachen. Denn es sind genau die Vertreter_innen und Verfechter_innen des BRD-Kapitalismus, die nicht müde werden, ihr System an der DDR zu messen und daraus den angeblich guten und menschlichen Charakter ihres Politik-, Rechts- und Wirtschaftssystems zu belegen und zu rechtfertigen. Sowie man aber das Gleiche macht, nur eben in einer für jene Verfechter des BRD-Kapitalismus unangenehmen Weise, heißt es sofort, man relativiere das Unrechtssystem der DDR und würde das Geschäft der Rechten, Reichsbürger, oder wahlweise der russischen Trolle betreiben.
Wie aber sieht es mit der jüngeren Geschichte der BRD seit 1990 aus?
In den letzten fast dreißig Jahren kam es immer wieder zu großen und massenhaften Bürger_innen-Protesten und Aktionen des zivilen Ungehorsams. Wie würden sich der Rechtsstaat, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und Justiz, heute im Fall Gorleben, Freie Heide oder Stuttgart21 verhalten? Wären derartige und im Endeffekt erfolgreiche Aktionen und Kampagnen überhaupt möglich? Oder würde der Rechtsstaat mit gleicher unerbittlichen Härte wie beim G20 in Hamburg oder beim Hambacher Forst agieren?
Hier lohnt es sich einen Blick auf den jahrzehntelangen und letztendlich erfolgreichen Widerstand der Aktionsgruppen und Bürger_innen-Initiativen für eine Freien Heide und gegen das als Bombodrom bezeichnete geplante Bombenabwurf-Übungsgebiet in der Kyritz-Ruppiner Heide. Hier formierte sich am 23. August 1992 mit der Gründung der BI Freie Heide ein zunächst regionaler, dann auch überregionaler, massiver und kreativer Widerstand gegen das Ansinnen der Bundeswehr, aus dem 144 km2 (ca. 1/6 von Berlin oder 1/3 von Köln) großen, ehemaligen Truppenübungsplatz der Roten Armee, einen Luft-/Bodenschießplatz für die Luftwaffe zu machen und dort ganzjährig und umfänglich das gezielte Abwerfen von Bomben im Tiefflug zu trainieren.
In den Jahren formierte sich eine vielschichtige und mit Durchhaltevermögen ausgerüstete Protestbewegung, die mit zahlreichen Methoden Widerstand gegen die Bundeswehr leistete. Dazu zählten Kundgebungen, Demonstration, Medien- und Marketing-Kampagnen sowie gerichtliche Schritte. Aber auch das massenhafte und alltägliche Betreten und Durchwandern des Militärischen Sperrbereichs, offene und auch mehrtägige bis wochenlange Besetzungen von Teilen des Bombodromgeländes mit Blockaden gegen die zuständige Bundeswehr-Kommandantur verbunden mit gezielter Sachbeschädigung von Platz- und Warnschildern, Schranken und Gerätschaften der Bundeswehr auf dem Platz waren gängige und von allen Aktivist_innen und Bürger_innen akzeptierte und tolerierte Mittel und Methoden. Und das nicht selten unter den Augen der lokalen Polizeibeamten, die, ähnlich wie lokale Politiker_innen durchaus ein Eigeninteresse und Sympathien für den Widerstand hegten.
Letztendlich strich die Bundeswehr 2009 die Segel und legte ihr Ansinnen eines Bombodroms in der Kyritz-Ruppiner Heide, ad Acta. Am 09.07.2009 verkündet der damalige Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) den Verzicht auf die Nutzung als Luft-/Bodenschießplatz. Der Widerstand mit seinen verschiedenen Facetten hatte gesiegt. Die Heide war frei.
Doch wäre das so heute wiederholbar?
Nach der neuen Gesetzeslage wären alle Aktivisten_innen der Freien Heide, ob friedlich oder militant Straftäter_innen. Was damals bestenfalls und auch nur für einige wenige, eine Anzeige wegen einer Ordnungswidrigkeit zur Folge hatte und ähnlich wie damals in der DDR, eine Ordnungsstrafe nach sich zog, käme heute, nach dem was wir über den G20 in Hamburg und nun auch über den Hambacher Forst hören und lesen, wahrscheinlich und mindestens als gemeinschaftlich begangener schwerer Landfriedensbruch zur Anklage. Und wahrscheinlich für alle Aktivisten_innen. Im Fall von Gorleben und der Anti-AKW-Proteste würde das heute allemal auch gelten und wahrscheinlich käme da auch, ähnlich wie beim G20, versuchte gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung dazu. Und zwar auch für allen Aktivist_innen.
Wie also ist es, abgesehen von G20 und Hambacher Forst, tatsächlich um die Rechtstaatlichkeit in diesem Land bestellt?
Wie bekannt, gilt seit 2017 eine neue verschärfte Gesetzeslage bei so genannter „Gewalt gegen Polizisten“. Schon vermeintlich „Tätliche Angriffe sind bereits strafbar – so etwa als versuchte oder tatsächliche Körperverletzung oder Nötigung, wozu auch Schubsen oder Anrempeln gehören. Zu einer Verletzung oder Schmerzen muss es dabei nicht kommen. Der zu ahnende ‚Angriff‘ muss zudem nicht mehr während einer sogenannten Vollstreckungshandlung passieren, etwa einer Festnahme. Stattdessen soll das Gesetz für die gesamte Dienstzeit von PolizistInnen gelten“. [5]
Und das das noch nicht das Ende der Fahnenstange ist, zeigen mehrere Beispiele aus der jüngsten Zeit. Unter anderem ein aktueller Fall aus Bremen. Wie die TAZ schreibt, sind dort Polizei und Staatsanwaltschaft ungerechtfertigt gegen den Pressesprecher des linken „Social-Strike“ Bündnisses, „Für Aufrufe zu G20-Demos im Hamburger Hafen“ vorgegangen und haben diesen, ein Jahr nach dem G20, kriminalisiert und angeklagt. „Aus einem vagen Bauchgefühl heraus hatte ein Polizist entschieden, ein Aufruf zu einer angemeldeten und am Ende völlig friedlichen Demonstration im Hamburger Hafen während des G20-Gipfels könnte eine Aufforderung zu Straftaten sein. Statt die Sache sofort einzustellen, verfolgte die Staatsanwaltschaft den Fall weiter. “ [6] Ein Twitterer stellte dazu die durchaus berechtigte Frage: „Darf man Staat und Kapital noch kritisieren, ohne Post oder Besuch von der Polizei zu bekommen?“. [7] Allerdings muss man zugutehalten, dass es dann eine Richterin war, die den Prozess nach wenigen Minuten einstellte. Alle Kosten gingen zu Lasten des Staates. [8]
Ein weiteres Beispiel für die Eigenarten des Rechtsstaates lieferte der Twitterer Subsömmerpausante Midas, am zweiten August 2018: „Wegen dieses Tweets von 2016 wurden gerade alle meine Computer, Smartphones und internetfähigen Geräte durch die Kripo beschlagnahmt.“
Auf die Nachfrage eines anderen Twitterers, was denn der Tatvorwurf sei, antwortete Subsömmerpausante Midas: „Bin beschuldigt nach StGB 16. Ich hatte einen Link mit den Namen von 4 sächs Cops mit #Reichsbürger-Propaganda in ihren öffentl. FB-Profilen l gewittert Nun soll ich „wider besseres Wissen“ gehandelt haben. Rechststaat-Level: Just #Sucksen things.“
Auch die skandalösen Richtersprüche am Ende des NSU-Prozesses, im Fall der Angeklagten Eminger und Wohlleben [9] , oder der unverständliche Freispruch im Wehrhahnprozess [10] lässt große Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit und der politischen Unabhängigkeit der Gerichte aufkommen.
Ein weiterer Aspekt, der am Rechtsstaat zweifeln lässt, ist der Sachverhalt, dass sich Polizisten fast nie für Ihre Taten vor Gericht verantworten müssen. Zu diesem Schluss kommt eine Recherche des Journalisten Moritz Wichmann über die Berliner Polizei. Laut Wichmann gäbe es pro Jahr etwa 1000 Strafanzeigen gegen die 25.000 Berliner Polizeibediensteten. Im Jahr 2017 seien es 887 gewesen. In den meisten Fällen ging es um den Vorwurf der Körperverletzung im Dienst. Da es aber keine zentrale Erfassung gäbe, sei nicht klar, wie hoch die Zahlen tatsächlich seien. Des Weiteren kommt Wichmann zu der Erkenntnis, dass nur bei sehr wenigen dieser Fälle ein Verfahren eingeleitet wurde. Zwischen 2009 und 2017 waren es lediglich 61 Verfahren, wobei es 2009 und 2017, gar keine Verfahren gab, und 2014/2015/2016 nur zwei bzw. drei. Wie diese Verfahren ausgingen, konnte nicht ermittelt werden, weil die Justiz-Statistik dazu nichts aussagt. [11]
Somit ist festzuhalten, dass Polizisten hierzulande fast keine Konsequenzen für ihre Taten befürchten müssen und zudem wie bereits erwähnt seit 2017 den besonderen Schutz eines quasi Unantastbarkeitsgesetzes genießen. Bekanntermaßen ist eine weitere landesweite Verschärfung durch eine so genannte bundeseinheitliche „Sicherheitsstruktur“ und ein „Musterpolizeigesetz“ [12] das sich am neuen Bayrischen Polizeigesetz orientieren soll, längst in Planung. [13]
Angesichts der deutlichen Verschärfung der staatlichen Gangart gegen linke Aktivist_innen und das nicht erst seit dem G20 in Hamburg, und der Tatsache, dass die Staatsgewalt auf dem rechten Auge immer blinder zu werden scheint, muss man sich ernsthafte Gedanken machen, gegen wen diese ganzen Gesetzesverschärfungen und polizeilichen Gewalteskalationen genau gerichtet sind.
Ein Kollege kommentierte den Fall der abgeurteilten Umweltaktivistin vom Hambacher Forst, und die verschärfte Gesetzeslage so: „War ja klar, dass es damit zuerst gegen links geht.“ Genau. War klar. Und daraus resultiert auch wieder einmal: Linke sollten immer sehr vorsichtig damit sein, höhere Strafen oder schärfere Gesetze gegen wen auch immer zu fordern.
Bewegt sich das alles in Richtung Polizeistaat? Muss sich dieses Land den Vergleich mit Ländern wie Türkei, Russland, Ungarn, oder Polen gefallen lassen? Oder die USA mit ihrer von Rassismus geleiteten Politik, Polizei und Justiz, gegen Einwanderer aus z.B. Mexiko, Schwarze, indigene Ureinwohner?
Dass im Fall in Bremen eine Richterin gerecht gehandelt hat, ist doch nur ein Beleg, dass noch nicht alles ganz verloren ist und es offensichtlich noch Richter_innen gibt, die sich nicht vom rechtskonservativen Low & Order Gewitter der Regierung beeinflussen lassen. Aber wie lange noch?
Lieber eine kapitalistische Demokratie als eine kapitalistischen Diktatur?
Im schon oben beschriebenen Diskurs mit einem Bekannten wurde ich gefragt, ob es nicht besser sei, mit einem Seitenblick auf die AfD, in einer kapitalistischen Demokratie zu leben, als in einer kapitalistischen Diktatur. Und selbstverständlich wird dabei auf die Gefahr der AfD hingewiesen.
Abgesehen davon, dass der aktuelle Bundesinnenminister der BRD von einer rechtspopulistischen Regionalpartei gestellt wird, die mit der AfD um die Wette hitlert, ist nicht zu übersehen, dass auch die Vertreter_innen aller anderen sogenannten etablierten „Parteien der Mitte“ durchaus auch mit der AfD mithalten können und dies zum Zwecke des Machterhalts auch praktizieren. So kann, oder sollte sich diese Frage für eine ernsthafte Linke überhaupt nicht stellen.
Und das auch ganz besonders im speziellen Fall der linken DDR-Opposition oder der Menschen, die in der DDR 1989 auf die Straße gingen für einen wirklichen und demokratischen Sozialismus in der DDR. Denn uns wurde 1990 das Land und die Revolution weggenommen und der BRD-Kapitalismus „gegen den Willen“ übergeholfen. Zu dem, was sich da zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990 abspielte, sagte der Dramatiker Heiner Müller: „Auf jede halbe Revolution folgt eine ganze Konterrevolution“.
Und selbstverständlich geschah das auch durch die Mehrheit des DDR-Wahl-Volks und seine massenhafte, fatale Fehlentscheidung bei der letzten Volkskammerwahl im März 1990. Letztendlich aber muss man zugutehalten, dass die meisten, die jene „Allianz für Deutschland“ und ihre „Deutsche Einheit“ stimmten, offenkundig zu verblendet und zu besoffen waren von der massiven Propagandamaschine der BRD und den ganzen Versprechen der Kohls, Genschers, oder Brandts, von einer angeblich paradiesischen Schlaraffenrepublik, in der für alle „blühende Landschaften“ entstehen werden, wo niemand Sorge haben muss, denn: „Niemandem wird es schlechter gehen – vielen wird es besser gehen“, tatsächlich Glauben geschenkt haben. Und dass es darum „keine sozialistischen Experimente“ mehr geben darf.
Wollt Ihr die Bananenrepublik?
Und letztendlich war das nach individuellem Kaufrausch gierende und vom Westfernsehen 40 Jahre sturmreif geschossene DDR-Volk, an dieser Stelle einfach viel zu vernagelt, um zu erkennen, wem sie sich da tatsächlich ausliefern werden. Stattdessen glaubten sie, fast schon wie naive Kinder, den Versprechungen der Rattenfänger und Heilsbringer aus dem Westen. Diejenigen die wussten was kommen würde, haben es leider nicht verstanden, das dem Wahlvolk klar zu machen.
Und so wurde aus dem „emanzipatorischen, freiheitlichen und prosozialistischen „Wir sind das Volk“ ganz schnell „Wir sind ein Volk“. Was dann am 3. Oktober 1990 passierte sollte hinlänglich bekannt sein. Für mich bedeutetet es, das mir mein Land weggenommen, dem BRD-Kapitals übergeben und mit Hilfe der Treuhand zum Ausschlachten frei gegeben wurde. Und das auch ganz klar, durch aktive mit Hilfe der Modrow – Regierung der SED/PDS).
Was aber das Argument von Gut und Böse im Kapitalismus angeht. Diese Frage kann sich für eine wirkliche, radikale, auf „Überwindung des Kapitalismus“ ausgerichtete Linke gar nicht stellen. Denn diese ist nichts weiter als Augenauswischerei der anderen. Um es mit jenem beliebten Satz von Adorno zu sagen: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Und es geht nicht um den Erhalt eines wie auch immer gestalteten, pseudosozialen Kapitalismus, der sich einen von Motten durchlöcherten Zaubermantel mit Namen Sozialen Markwirtschaft übergestreift hat und damit weiterhin versucht das Volk mit einem imaginären Gründungsmythos der BRD anzutriggern.
Christian Baron schreibt dazu im Neuen Deutschland: „in Deutschland ist es der Glaube an eine Versöhnbarkeit von Kapitalismus und sozialer Demokratie. Letzterer äußert sich oft so, dass freiheitliche Werte mit dem Wettbewerbsgedanken verknüpft werden, als handele es sich um ein Naturgesetz. Wenn etwa Kontroversen um den Konflikt zwischen der NATO und Russland auf die Frage reduziert wurden, wie »der Westen« die Politik des »Autokraten Putin« eindämmen könne, dann hat das Propagandasystem, ganz unabhängig von den möglichen Antworten, schon gewonnen, weil die Grundannahme feststeht: Es geht demnach um eine Konfrontation zwischen Großmächten, deren eine angeblich expansionistisch und aggressiv ist, während die andere die Freiheit verteidigt. Das Problem, dass die NATO expansionistisch und aggressiv agiert, ist damit ebenso vom Tisch wie die Frage, ob der Konflikt nicht eher ein Kampf um die geostrategische Vorherrschaft ist, in dem es keine klare Rollenverteilung zwischen Gut und Böse geben kann.“ [14]
Für eine Linke (also auch eine Partei die sich so nennt, aber nicht nur diese), ob kommunistisch, trotzkistisch, anarchistisch, sozialistisch, ob friedlich oder militant, kann es letztendlich nur um die Beseitigung, oder auch Überwindung des Kapitalismus und jeder Form von Ausbeutung, Unterdrückung, Unfreiheit, und die Schaffung einer herrschaftsfreien und für alle Maschen gerechten Gesellschaft gehen. Und das ist eigentlich alternativlos.
Und die AfD? Was das Wahlvolk einfach nicht begreifen will ist ja: Auch die AfD stellt letztendlich den kapitalistischen Rechtsstaat gar nicht in Frage. Sie will ihn nur von seinem mottenzerfressenen Zaubermantel einer angeblichen „Sozialen Gerechtigkeit“ befreien. Sie will das Kapital weiter stärken und mit Leid und Blut erkämpften Errungenschaft der Arbeiterklasse ein für alle Mal zurückschrauben und abschaffen.
Damit das klappt, hat sie sich einen anderen Zaubermantel übergeworfen. Der da lautet: „Rassismus“ und „Ausländer und Flüchtlinge raus“. Und die etablierten demokratischen Parteien versuchen, etwas hölzern, hektisch und noch nicht ganz so erfolgreich, sich auch so einen schönen neuen Zaubermantel zu besorgen. Und dass gilt eben auch für die SPD. Man sehe nur die jüngsten entsprechenden Äußerungen von Andrea Nahles.
Und was die abgeurteilte verurteilte Umweltaktivistin vom Hambacher Forst angeht. Als ehemaliger Angehöriger der DDR Oppositionsbewegung, als langjähriger Aktiver in der Freien Heide und als linker, antifaschistischer Journalist, bin ich ohne Wenn und Aber solidarisch mit ihr. Letztendlich kann ich nur hoffen und wünschen, dass es ausreichend Empörung, Protest und öffentlichen Druck geben wird, dass sich dieser Rechtsstaat immerhin genötigt fühlt, dieses offensichtlich politisch motivierte Urteil zu kassieren. Allein der Glaube schwindet und die Furcht das es nicht dazu kommen könnte hält an.
Der hochgelobte demokratische Rechtsstaat hingegen hat sich in meinen Augen schon längst auf dem Weg gemacht, ein rechter und rassistischer Polizeistaat zu sein.
Quellen:
[1] „Zeichen gegen weitere Straftaten“ Aktivistin aus dem Hambacher Forst verurteilt, Kölner Stadt-Anzeiger, 1.8.2018: https://www.ksta.de/region/rhein-erft/kerpen/-zeichen-gegen-weitere-straftaten–aktivistin-aus-dem-hambacher-forst-verurteilt-31044480?originalReferrer=https://t.co/7ZeT4YEG4l&originalReferrer=http://m.facebook.com&dmcid=sm_fb_p
[2] Hambi bleibt! https://abcrhineland.blackblogs.org/
[3] „Zeichen gegen weitere Straftaten“ Aktivistin aus dem Hambacher Forst verurteilt, Kölner Stadt-Anzeiger, 1.8.2018: https://www.ksta.de/region/rhein-erft/kerpen/-zeichen-gegen-weitere-straftaten–aktivistin-aus-dem-hambacher-forst-verurteilt-31044480?originalReferrer=https://t.co/7ZeT4YEG4l&originalReferrer=http://m.facebook.com&dmcid=sm_fb_p
[4] aus wikipedia.org: Das Tian’anmen-Massaker: https://de.wikipedia.org/wiki/Tian%E2%80%99anmen-Massaker
[5] Bei Schubsen Knast, TAZ; 26.4.2017, http://www.taz.de/!5401997/
[6] Gefährliches Bauchgefühl, TAZ, 30.7.2018, https://www.taz.de/!5520435/
[7] https://twitter.com/G20HH2017/status/1024959456969482240
[8] Sein Name war bekannt, TAZ, 30.7.2018, http://www.taz.de/!5520437/
[9] Neues Deutschland, Kein Erfolg für den Rechtsstaat, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1094325.urteile-im-nsu-prozess-...
[10] Neues Deutschland, Lügen schützt vor Strafe, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1095912.wehrhahn-prozess-luegen...
[11] Neues Deutschland, 25.000 Beamte, keine Verurteilungen, https://www.neues-deutschland.de/artikel/1096063.berliner-polizei-beamte...
[12] Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 206. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 12. bis 14. Juni 2017 in Dresden https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/2017...
[13] Zeit Online, In Bayern droht bald überall Gefahr, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/polizeigesetz-bay...
[14] Sie können schreiben, was sie wollen, Neues Deutschland, Berlin-Ausgabe vom Samstag, 4. August 2018, Seite 9