Wir dokumentieren eine Antwort aus dem Zusammenhang von Café Morgenland an die Aufrufer_Innen des Berliner Hearings: "Schweigen und Verschweigen. NSU, Rassismus und die Stille im Land."
Berlin, den 9. Juni 2012
Offener Brief an die Initiatoren und Verfasserinnen der Resolution:
"Aufklären und Einmischen: Konsequenzen aus der rassistischen NSU-Mordserie ziehen"
http://buendnis-gegen-das-schweigen.de/resolution/
Ich weiss nicht, aber mich beschleicht das komische Gefühl, dass ihr euch, wie auch die, die unterschreiben, sich einen Persilschein ausstellen wollen, bei all der Berechtigung, die ich in eurer Initiative und zum Teil auch in der Resolution sehe; einen Persilschein, der das eigene Versagen in den Jahren, in denen die Mörder der NSU einen Kanaken nach dem anderen aus dem Weg geräumt haben, kaschieren soll.
Ihr schreibt: Sondern auch, weil diese Mordserie erst durch das komplette Versagen der Sicherheits- und Geheimdienste der Länder und des Bundes möglich wurde. [...]
Ich mag diese Resolution in seiner Form nicht unterschreiben, weil, ich finde, diese Art der Wahrnehmung der Ereignisse eine einseitige ist. Versagt haben nicht nur die erwähnten und allseits unbeliebten Sicherheits- und Geheimdienste, versagt haben wir alle. Wir, du, ich, ihr, wir alle. Thematisiert wird das in eurer Resolution nach aber nur am Rande, schwammig, kaum wahrnehmbar. Der Schwerpunkt des Textes liegt im Versagen der anderen, der Sicherheitsdienste, des Staates, der Geheimdienste, nur nicht bei euch und bei uns. Aber sind nicht wir, die zählen. Was interessiert mich das Versagen von Diensten, wenn ich weiß, daß wir alle die letzten 20 jahren, nicht erst seit der Mordserie der NSU, versagt haben. Unser Versagen fängt mit Hoyerwerda an und zieht sich konsequent bis in die Gegenwart. Ist dem nicht so, dass nicht nur die Ermittler den rassistischen Hintergrund der Morde nicht sehen konnten, nicht wollten, sondern wir alle genauso wenig. Dabei spielt es keine Rolle, wo ich mich identitär persönlich verorte.
Haben euch diese Morde über all die Jahre interessiert? Nein? Kaum? Vielleicht ein bisschen? Was zählt ist, dass ihr wie alle übrigen geschwiegen habt. Wenn wir überhaupt diese Morde wahrgenommen haben, als Ermittler hätten wir gleichermaßen versagt. Und: wer hat sich an der Bezeichnung der Ermittlungsgruppe bis zum Datum der Aufdeckung der NSU gestört? Niemand. Wenn ihr, wie in dieser Resolution zum Ausdruck gebracht, den Schwerpunkt der ganzen Katastrophe im Versagen der staatlichen Institutionen seht, dann müsst ihr euch den Vorwurf gefallen lassen, Klientelpolitik zu betreiben.
Zudem: der Mord an Burak Bektaş in Neukölln wird von euch weder erwähnt, noch in euren Chroniken, Statistiken, Strichlisten, als rassistisch motivierte Mordtat geführt. Die politische Gruppierung ANA aus Berlin, Neukölln, bildet hier die Ausnahme. Warum meinen wir es in diesem Fall besser machen zu können, wenn wir nicht in der Lage sind, das ganz eigene Versagen der letzten zwei Monate, zehn, zwölf oder zwanzig Jahre ernsthaft zu thematisieren.
Hier sind meine Punkte, die ich finde, hätten so und zusätzlich in der Resolution stehen können:
statt
Ein Geheimdienst, der nichts von der Mordserie des NSU wusste, wird nicht gebraucht; ein Apparat, der sich nicht kontrollieren lässt und der eventuell wissentlich die Augen vor rassistischen Taten verschlossen hat, ist gefährlich und gehört abgeschafft.
hätte diese Passage drin stehen können:
Ein Gesellschaft, die nichts von der Mordserie des NSU wusste und nichts wissen wollte, die den Mord an Burak Bektaş nicht als rassistische Tat anzuerkennen weiß, wird nicht gebraucht; eine Gesellschaft, die sich nicht kontrollieren lässt und die wissentlich die Augen vor rassistischen Taten verschlossen hält, ist gefährlich und gehört abgeschafft.
und
Wir fordern:
1) sich selbst als per se rassistisch im Denken und Handeln zu begreifen.
2) anzuerkennen, daß das Gegenteil, d.h. nicht rassistisch zu sein, eine Unmöglichkeit darstellt.
3) sich mit seinem rassistischen Denken und Handeln auseinanderzusetzen und zu schauen, welche Auswirkungen es auf andere hat.
4) sich als Ziel zu setzen, seinen eigenen Rassismus eines Tages in Griff bekommen zu wollen.
5) anderen zur Seite zu stehen, wenn sie Opfer von Rassismus geworden sind.
6) zu intervenieren und zu sanktionieren, wenn andere ihren Rassismus nicht im Griff haben.
7) aufmerksam und solidarisch zu sein, wenn andere zu Opfern von rassistischer Gewalt werden.
8) das Versagen immer zuerst bei sich zu sehen.
9) zu vermeiden, dass das Leid der Familien der Opfer der NSU für eigene Belange und Interessen instrumentalisiert wird.
10) (last but not least) kein anderes, kein antikapitalistisches, kein antiimperialistisches, kein sozialistisches, kein ökologisches, kein antideutsches Deutschland, sondern gar kein Deutschland.
in diesem sinne
solidarische grüße (X)