Deutschland fordert Immunität für NS-Kriegsverbrechen

"Doch dem Kreuz dort auf dem Laken
Fehlen heute ein paar Haken
Da man mit den Zeiten lebt
Sind die Haken überklebt."

(Bertolt Brecht aus „Der anachronistische Zug“)

Ein Kommentar zum Fall Deutschland ./. Italien vor dem Internationalen Gerichtshof

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag verhandelte vom 12. bis zum 16. September 2011 öffentlich über eine Klage Deutschlands, die zum Ziel hat, Entschädigungsansprüche von griechischen und italienischen NS-Opfern auszuhebeln. Dieser Prozess ist nicht nur für alle Opfer von NS-Verbrechen von großer Bedeutung, er wird auch Auswirkungen auf Schadensersatzansprüche von Überlebenden heutiger Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit haben.

Als am Montag, den 12.9.2011, die mündliche Verhandlung im Fall Deutschland ./. Italien vor dem IGH mit den Plädoyers der deutschen Delegation begann, wähnte man sich in einem Bühnenstück, bei dem die Rollen vertauscht schienen. Deutschland nahm die Rolle des Opfers ein, das sich völlig zu Unrecht von der italienischen Justiz in die Enge gedrängt und nun zum Gegenangriff genötigt sieht. Doch nicht um die Einsparung schnöden Mammons gehe es hier vor dem höchsten Gericht der Welt, sondern, glaubt man den Bekundungen der juristischen Vertretung Deutschlands, um nicht weniger als um Bewahrung der Völkergemeinschaft vor vielerlei Unbill. Italiens oberster Gerichtshof, so die deutsche Seite, habe durch seine Rechtsprechung das internationale Recht verletzt und Deutschland sei angetreten, diesem wieder Geltung zu verschaffen. Anderenfalls drohe die Nachkriegsordnung zusammen zu brechen, würde das komplexe Regelwerk der internationalen Gemeinschaft erodieren, brächen Chaos und Anarchie aus. Kurz: Deutschland nimmt für sich in Anspruch, den Frieden in der Welt zu retten.

Warum dreht Deutschland in Den Haag ein solch großes Rad? Seit Jahrzehnten verweigern bundesdeutsche Regierungen den Opfern von NS-Verbrechen in ehemals von Nazi-Deutschland besetzten Ländern Entschädigungsleistungen. Die Überlebenden der Massaker von Distomo, Kalavryta, Civitella oder Marzabotto .... haben wie die meisten anderen Opfer von NS-Verbrechen niemals vom deutschen Staat eine Entschädigung erhalten. Dies gilt auch für viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Klagen vor deutschen Gerichten blieben erfolglos. Griechische und italienische Gerichte bestätigten hingegen die Ansprüche der Opfer.

Der Kassationshof in Rom erklärte bereits im Jahr 2004 die Klage eines ehemaligen NS-Zwangsarbeiters (Ferrini) für zulässig und die italienischen Gerichte für zuständig. Im Juni 2008 ermöglichte er die Zwangsvollstreckung gegen deutsches Eigentum in Italien im Fall Distomo und erkannte entsprechende Urteile griechischer Gerichte als rechtmäßig und vollstreckbar an. (Dies führte unter anderen zur Pfändung der im deutschen Eigentum befindlichen Villa Vigoni am Comer See). Die Bundesregierung missachtet diese Entscheidungen.

Deutschland erhob am 23. Dezember 2008 Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof, um endgültig alle Entschädigungsprozesse und Vollstreckungsmaßnahmen jetzt und für die Zukunft zu stoppen. Die Bundesregierung versucht, den Internationalen Gerichtshof dafür zu missbrauchen, die Ansprüche der Opfer von NS-Verbrechen weiter zu torpedieren und die Unabhängigkeit der italienischen Gerichte außer Kraft zu setzen. Angeblich habe die italienische Justiz die Staatenimmunität Deutschlands nicht beachtet.

Der Einwand der Staatenimmunität ist auch das zentrale juristische Argument, welches Deutschland als Allzweckwaffe einsetzt, um sich gegen Klagen im Ausland abzuschotten. Auf die eigene Justiz kann sich die Bundesrepublik verlassen, diese entscheidet im Zweifel zugunsten der Staatsräson und zum Schutze des deutschen Haushalts. Doch ausländische Gerichte reagieren nicht immer wie gewünscht auf Druck aus Berlin. Besonders unbotmäßig zeigte sich der Kassationshof in Rom. Dieser wagte es, Deutschland die Staatenimmunität in Fällen von „Verbrechen gegen die Menschheit“ abzusprechen, die Nazi-Deutschland begangen hat. Hierzu zählen auch jene Hunderte von Massakern, die deutsche Besatzungstruppen an der Zivilbevölkerung besetzter Länder begingen.

Die deutsche Delegation erklärte im Gerichtssaal, dass man ja versucht habe, die italienische Regierung dazu zu bewegen, eine Umkehr bei der italienischen Justiz zu bewirken. Doch leider habe die sich auf die Unabhängigkeit ihrer Gerichte berufen. Deutschland reklamiert also die Unantastbarkeit seiner staatlichen Souveränität, während es gleichzeitig alles unternimmt, die Souveränität Italiens und seiner Justiz zu unterlaufen: Eine Verkehrung der Tatsachen!

Mit der Klage in Den Haag versucht Deutschland nun, den Internationalen Gerichtshof dafür zu instrumentalisieren, sich von Zahlungsverpflichtungen ein für alle mal zu befreien. Der Prozess hat aus deutscher Sicht den Vorteil, dass die Opfer und damit auch deren anwaltliche Vertretungen nicht beteiligt sind. So bleibt man von den Nadelstichen verschont, welche die griechischen und italienischen Davids dem deutschen Goliath immer wieder beigebracht hatten. Seit 16 Jahren kämpfen die Überlebenden und Angehörigen der Opfer gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner, der es in der Vergangenheit immer wieder schaffte, juristische Erfolge mit dem politischen und ökonomischen
Übergewicht einer europäischen Supermacht außer Kraft zu setzen.

Und so hoffte Deutschland vermutlich darauf, dass die italienische Regierung, welche sich unter freiwilligem Druck auf den Prozess in Den Haag einließ, kein allzu ernsthafter Gegner sein würde. Doch ganz ging die Rechnung nicht auf. Die italienische Delegation ließ die Attacken der Deutschen gegen die italienische Justiz vom Montag nicht unbeantwortet. Auf den politischen Generalangriff der Deutschen folgte am Dienstag, den 13.9., eine dezidierte Darstellung der Säumnisse Deutschlands bei der Entschädigung von NS-Opfern und die hieraus folgenden Konsequenzen. Hatten die deutschen Vertreter noch versucht, die Entschädigungsfrage aus dem Prozess herauszuhalten, so legten die Italiener den Finger in die Wunde. Deutschland habe die Opfer von Kriegsverbrechen nicht entschädigt. Eine Entschädigungspflicht für die von Nazideutschland begangenen Verbrechen, so die italienischen Juristen, sei aber ein zwingendes Gebot des Internationalen Rechts. Daher konnte der Kassationshof in Rom auch gar nicht anders, als den Grundsatz der Staatenimmunität einzuschränken, anderenfalls hätte er die Rechte der Opfer und damit ein widerstreitendes und höherrangiges Rechtsprinzip verletzt.

Deutschland, so die Argumentation der italienischen Delegation, verletze bis heute das Internationale Recht, weil es seiner Entschädigungspflicht nicht nachkomme. Ein Vorwurf, der für wütende Gegenangriffe der deutschen Delegation am Donnerstag, den 15.9., sorgte. Deutschland habe Milliarden für die Entschädigung von NS-Opfern gezahlt, Deutschland habe Reparationen geleistet und einen Großteil seines Territoriums abgetreten. Der Geist des „Schlussstrichs“ waberte durch den Gerichtssaal. Die Mühe, sich mit der Frage auseinander zu setzen, welche Opfergruppen bis heute ohne Entschädigung geblieben sind, machte man sich nicht. Stattdessen folgte die kaum verhohlene Drohung: Wenn die NS-Opfer sich hier durchsetzen würden, dann könnten ja auch z. B. die deutschen Opfer des alliierten Bombenkriegs die Frage neu aufwerfen, ob hier ein Kriegsverbrechen vorlag und Entschädigung fordern. Das, so will man suggerieren, könne der Gerichtshof doch nicht ernsthaft wollen.

Dass es Deutschland auch darum geht, für die eigenen Kriegsverbrechen der Gegenwart und Zukunft nicht in die Haftung genommen zu werden, war nicht Gegenstand der Verhandlung. Darauf hinzuweisen, blieb der Protestkundgebung zu Beginn der Verhandlung vor dem Gerichtshof vorbehalten.

Am Freitag, dem 16.9.11 endete die Verhandlung. Wann ein Urteil gesprochen wird blieb offen, in welche Richtung der Gerichtshof tendiert ebenfalls. Allerdings deuteten die Abschlussfragen einiger Richter darauf hin, dass die Frage der Staatenimmunität nicht völlig isoliert betrachtet werden wird. Es scheint, das Gericht werde die Frage der Entschädigung und den Konflikt widerstreitender Normen nicht gänzlich ausblenden. Zu hoffen ist, dass sich der IGH für die Rechte der Opfer und Überlebenden entscheidet. Nur so kann Deutschland gezwungen werden, seine Verpflichtungen zu erfüllen.

Setzt sich Deutschland mit seiner Position durch, würde dies bedeuten, dass es auch in Zukunft nicht befürchten müsste, durch Opfer von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dies wäre ein Rückfall hinter die Prinzipien von Nürnberg, die eine Ächtung von Verbrechen gegen die Menschheit und eine Sanktionierung beinhalten. Die Entscheidung des IGH wird somit weitreichende Auswirkungen für die Frage von Krieg und Frieden haben.

AK-Distomo - Hamburg, den 21.9.2011

PS: Orginaldokumente unter:http://www.icjcij.org/docket/index.php?p1=3&p2=3&k=60&case=143&code=ai&p3=2

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