Ausgeforscht

Von 2004 bis 2006 war die Polizeibeamtin Iris Plate unter dem Namen Iris Schneider Teil der FSK-Redaktion re[h]v[v]o[l]te radio. In den Monaten vor und nach ihrem Verschwinden haben wir uns oft die Frage gestellt, ob sie ein Spitzel war. Eine eindeutige Antwort darauf hatten wir nicht. Jetzt, acht Jahre später, gibt es endlich Gewissheit. Wie wir aus parlamentarischen Anfragen und den Sitzungen des Hamburger Innenausschusses wissen, operierte Iris Plate vom 1. April 2001 bis zum 31. März 2006 als Beobachterin für Lagebeurteilung (BfL) des LKA Hamburg, und ab dem 7.‌ Oktober 2002 zusätzlich als Verdeckte Ermittlerin (VE) für den Generalbundesanwalt in einem §129a StGB Verfahren. Ab dem 1. Mai 2004 war das LKA Schleswig-Holstein federführend mit den Ermittlungen in diesem Verfahren betraut.
Endlich Gewissheit über die Identität von Iris zu haben, empfanden wir im ersten Moment als Erleichterung. Aber was bedeuten diese neu bekannt gewordenen Fakten? Was wissen wir über das, was LKA und BKA über uns wissen? Und welche Konsequenzen hat der Einsatz von Iris Plate im Rundfunksender FSK und in unserer Redaktion?
Um zunächst festzustellen, was wir denn eigentlich über Iris Plate wissen, haben wir uns auf eine Spurensuche begeben, die offenbart, dass die bisherigen Darstellungen des LKA Hamburg und der Innenbehörde in weiten Teilen nicht der Wahrheit entsprechen.

Am Anfang stand ein Reh
Im Sommer 2004 trafen wir uns, um eine neue Radiosendung ins Leben zu rufen. Unser Anspruch war, gemeinsam mit unseren Studiogästen gesellschaftliche Entwicklungen aus dem Blickwinkel feministischer Kritik zu betrachten und Perspektiven zu diskutieren. Im Laufe der Jahre entwickelten sich eine Reihe von thematischen Schwerpunkten: queere und feministische Politiken in Hamburg, Stadtentwicklung, neue Literatur, Homophobie in Europa, Antifaschismus, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik in Deutschland und Japan, sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten. Bis heute sendet re[h]v[v]o[l]te radio an jedem ersten Sonntag und Montag im Monat auf FSK 93,0 MHz.
Warum wir Iris eingeladen haben, sich an der neuen Sendung zu beteiligen, ist schnell erzählt: Sie lebte in der queer-feministischen Szene, war mit Freundinnen und Freunden von uns befreundet und seit 2003 war sie im FSK aktiv. Sie sendete im „Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen“, beteiligte sich am Aufrechterhalten der Senderstrukturen und nahm an Diskussionen über Radiopolitik und den Umgang mit Antisemitismus im Radio teil. Sie hatte die FSK-Sendungen „female machos“ und „u-turn queer“, bei denen einige von uns vor der Gründung von re[h]v[v]o[l]te radio aktiv waren, gehört und gezielt das Gespräch über bestimmte Interviews und Sendungsthemen gesucht. In Gespräche ließ sie einfließen, sie hätte Lust, sich an Sendungen mit uns zu beteiligen.
Iris stellte sich als feministisch interessierte und politisch engagierte Person dar. Sie lieh sich von uns Bücher und CDs und verschickte E-Mails mit Hinweisen auf Veranstaltungen und Medienberichte:

Von: Polizeibeamtin
Gesendet: Montag, 10. Januar 2005 11:39
An: xxx
Betreff: Steinburg-NPD-Videodoku-Panorama

guten tach xxx,
will ich dir doch auch mal etwas zukommen lassen. vielleicht hast du es schon gesehen, aber vielleicht auch nicht. dieser link führt dich zu der berichterstattung vom ndr zu steinburg. oben rechts ist der button zum video-stream. in steinburg wurde von antifas versucht, die npd-wahlkampfveranstaltung zu stören. npdler griffen daraufhin an und verletzten u.a. eine zu boden gerissene demonstrantin mit fusstritten.
http://www1.ndr.de/ndr_pages_newsdetail/0,2984,NID20050106165733_NTBNDR_...
wahlweise auch http://www.ndrtv.de/panorama/archiv/2005/0106/npd.html
dir nen schönen start in die woche.
ix

Wir mochten Iris und luden sie zum ersten Redaktionstreffen der neuen Sendung ein. Von da an trafen wir uns einmal monatlich donnerstags zur Planung der Sendung und an zusätzlichen Terminen zur Vorproduktion von Interviews und Beiträgen. Die festen Redaktionstreffen fanden bei einem Mitglied der Redaktion zu Hause statt, und Iris nahm regelmäßig daran teil.
Die Polizeibeamtin war auch maßgeblich an der Namensgebung der neuen Sendung beteiligt. Als Arbeitstitel hatten wir zunächst „Steht ein Reh im Wald” gewählt. Bei vorherigen Projekten war uns klar geworden war, wie sehr ein Name immer wieder sein Recht einfordert, Programm zu sein. Wir wollten für die neue Sendung insofern einen Namen wählen, der keine Programmatik verraten und stattdessen klischeehafte Bilder von Romantik, Ruhe und einer dekorativen Form von Natürlichkeit evozieren sollte. Wir lachten damals viel über scheue und forsche Rehe, über Rehe in Wäldern und auf Verkehrsinseln. Iris hingegen war das zu naturnah und albern. Ihrer Meinung nach sollte der Name unserer Sendung „politischer“ sein und „nach vorne gehen“. Sie schlug „Rehvolte Radio“ als Namen vor und vertrat dies während einer Sendung Anfang Mai 2005 auch vor offenem Mikrofon:

Moderatorin X: Apropos absurde Dinge. Mir fiel ja letztens auf als ich so durch die Schanze schlenderte, dass es in allen möglichen Bekleidungsgeschäften bedruckte T-Shirts, Röcke, Handtäschchen und andere Accessoires mit Rehen drauf gibt, worauf ich gleich dachte ‚Oh nein’. Entweder sind wir Trendsetter oder man sollte schnell den Namen wechseln.
Polizeibeamtin: Ja, da kommen wir zum nächsten absurden Ding: Wie heißen wir eigentlich?
Moderatorin X: Tja …
Moderatorin Y: Wir heißen offensichtlich nicht mehr „Steht ein Reh im Wald“.
Polizeibeamtin: Es gab ja noch einen neuen Vorschlag, und zwar zum Thema Reh: Rehvolte Radio.
Moderatorin X: Oha. Da müssen wir gleich noch mal drüber sprechen. Vielleicht können wir das während der Musik tun.
Moderatorin Y: Ich glaube auch, das muss noch diskutiert werden.

Wir einigten uns schließlich auf das Wortungetüm mit den vielen Klammern: re[h]v[v]o[l]te radio – Programmatik in Maßen, aber nicht ohne Gebrochenheit und Komplikation. Bis heute schreibt es niemand einfach flüssig so weg (einschließlich unserer selbst), ein schöner Spaß, plötzlich leider mit bitterem Beigeschmack.

Polizeifunk wider Willen
In den Archiven des FSK finden sich verschiedene Mitschnitte, die Auskunft darüber geben, dass die Polizeibeamtin Iris Plate nicht nur als Moderatorin, sondern auch als Produzentin, Interviewerin und Interviewte im FSK tätig war. Im Sommer 2004 etwa produzierte sie einen Jingle, um auf das Schanzenfest am 28. August aufmerksam zu machen. Dabei verwendete sie O-Töne und Musik aus Roland Emmerichs Katastrophenfilm „The Day after Tomorrow“:

Denis Quaid: „Wer ist da?“
Polizeibeamtin: „Hallo ich bin’s, stör ich?“
Denis Quaid: „Nein, ist schon gut. Was gibt’s?“
Polizeibeamtin: „Ich wollte Dir erzählen, dass es am 28. August ab 12 Uhr im Schanzenviertel ein Straßenfest geben soll. Und abends ab 22 Uhr gibt es eine große Party in der Roten Flora.“
Denis Quaid: „Augenblick – ich kann das nicht glauben.“
Polizeibeamtin: „Doch, es ist so, es gibt ein Schanzenviertelfest.“
Denis Quaid: „Und was können wir tun?“
Polizeibeamtin: „Wir können uns unkommerziell selbst beteiligen. Das heißt, vielleicht wollen wir einen Infostand für unser Projekt aufbauen oder einen Stand aufbauen und etwas präsentieren oder Spenden einsammeln. Wir können uns aber auch einfach nur so den öffentlichen Raum nehmen.“

„Wir nehmen uns den öffentlichen Raum!“ So lautete das politische Motto des Straßenfests, für das die Beamtin hier warb, und das zum ersten Mal seit 1988/1989 nicht bei der Polizei angemeldet worden war (siehe dazu auch https://www.freie-radios.net/68850).
In diese Zeit fällt auch der Beginn der Redaktionsarbeit von re[h]v[v]o[l]te radio. Die Mitschnitte unserer damaligen Sendungen zeigen ein breites Themenspektrum. Wir führten z.B. Interviews mit Organisatorinnen der Lesbisch Schwulen Filmtage oder dem Hamburger Bündnis gegen Antisemitismus, berichteten vom Park Fiction Kongress oder Veranstaltungen in den KZ-Gedenkstätten Neuengamme und Ravensbrück und bauten Beiträge mit O-Tönen zur Flüchtlingspolitik in Italien oder dem Internationalen Frauentribunal gegen sexuelle Gewalt im Krieg in Tokio.
Iris hat die Sendungsthemen mitbestimmt und sich an der Diskussion und Vorbereitung von Interviews und Beiträgen beteiligt. Sie war dabei ,als wir mit GedenkstättenleiterInnen, StadtentwicklerInnen, AktivistInnen, HistorikerInnen, AnwältInnen, ÄrztInnen und vielen anderen im durch die Pressefreiheit geschützten, vertraulichen Rahmen sprachen.
Die BKA-Ermittlerin war auch als Interviewpartnerin in der Sendung zu hören. Am 5. Februar 2005 berichtete Iris beispielweise von ihren Eindrücken als Teilnehmerin der antifaschistischen Demonstration gegen den Naziaufmarsch in Kiel am 29. Januar.

Moderatorin: „(…) Hier die Kollegin mit dem schwarzen Kapuzenpullover. Wie fandst Du es denn in Kiel?“
Polizeibeamtin: „Also ich fand Kiel insgesamt sehr prima, weil sich permanent Leute an Ecken sammeln konnten, um auf der Demoroute der Nazis zu stehen, dazustehen, sich zu sammeln, zu rufen, und sich auch direkt am Bahnhof – da wo Kundgebungsanfangspunkt war von den Nazis – auch genau dahin zu kommen, um kraftvoll Protest entgegenzusetzen.“
Moderatorin: „Und findest Du, dass die Eindrücke stimmen, die der junge Mann da eben berichtet hat? Also ist es auch Dein Gefühl, dass genau die Kreuzungen besetzt wurden, die auf der Naziroute lagen, oder hattest Du das Gefühl, dass es mehr an der Größe der Gegendemonstration lag, dass die Naziroute so verknappt wurde?“
Polizeibeamtin: „Also mein Eindruck war einfach, dass die Polizei gar keine Übersicht mehr hatte, wie viel und wann sich irgendwo Leute überhaupt aufhalten. Also fest stand, dass sich in der Innenstadt einfach ganz viele potentielle Gegendemonstranten aufgehalten haben, die einfach so mobil und so geballt überall immer wieder aufgetaucht sind, dass da einfach erst mal nichts gegenzusetzen war. Ansonsten würde ich allerdings denken, dass die Demoroute von den Nazis von den Gegendemonstranten gar nicht wirklich tangiert worden ist, also da die Polizei schon sehr massiv in meinen Augen dafür gesorgt hat, dass die hätte frei geräumt werden können, zumindest war das am Ziegelteich der Eindruck von mir, dass wir da massiv weggedrängt worden sind.“

Zu dieser Zeit war der Verdacht, bei Iris handele es sich um einen Spitzel, bereits ausgesprochen worden (genauer nachzulesen bei http://verdeckteermittler.blogsport.eu), und sie durfte unsere Radiosendung genutzt haben, um ihren Ruf in Hamburg wie auch in Kiel wieder herzustellen, und so ihren Zugang zu Informationen und Strukturen aufrecht zu erhalten.
Mit viel Zeit und technischem Sachverstand versuchte Iris sich unentbehrlich zu machen, etwa wenn sie bei FSK Konzertmitschnitten die Technik transportierte und aufbaute oder uns bei einem Club DJ Abend unterstützte. Auch wenn es darum ging, Treffen zu organisieren, konnte man sich auf Iris verlassen.

Von: Polizeibeamtin
Gesendet: Donnerstag, 14. Oktober 2004 13:56
An: xxx
Betreff: morgen fr.

huhu xxx,
wie ist es mit morgen um zwei?
da wär ich dabei.
ich hoff, du machst mit?
das wär der erste schritt…
:-)))))
ix

E-Mails aus der damaligen Zeit offenbaren, dass sie an geplante Redaktionstreffen erinnerte, gezielt nachbohrte, als sie einmal fürchtete, aus dem E-Mail-Verteiler geflogen zu sein, und z.B. explizit darum bat, unsere Pressekontaktlisten per Mail zu erhalten.

Von: Polizeibeamtin
Gesendet: Donnerstag, 7. Oktober 2004 11:45
An: xxx
Betreff: Duuuu? Kannste…emailVerteiler?

moinsen xxx,
sag mal, kannst du noch alle rekonstruieren, an die die pressemeldung hinausgegangen ist? ich glaub, ich bekomm’ nicht alle lückenlos zusammen.
magst du mir da helfen?
sonnig und wolkige gruesze.
ix

Durch ihr Vorpreschen und ihre Insistenz machte sich die verdeckt arbeitende Polizeibeamtin aktiv zu einem Bestandteil unserer Gruppe. Sie erkundigte sich oft nach Zusammenhängen und Auseinandersetzungen, wobei sie uns als Ältere adressierte, die sie in Themen und Szenen einführen konnten. Erst heute wissen wir, dass Iris Plate viel älter war als sie vorgab.

Queer-Feminismus im Fokus polizeilicher Ermittlungen
Iris hat das Vertrauen, das uns als Radiomacherinnen entgegengebracht wurde, ausgenutzt, um sich so den Zugang zu weiteren Gruppen und Einzelpersonen, insbesondere aus dem queer-feministischen Spektrum zu erschließen. Damals, zur Zeit der Schwarz/Schill Regierung gab es massive finanzielle Streichungen bei feministischen, queeren und antirassistischen Projekten. So waren das Frauenmusikzentrum (fm:z) und amnesty for women gefährdet und das erste Hamburger Frauenhaus musste schließen.
Angesichts des sich verschärfenden sozialpolitischen Klimas spitzte sich auch die Diskussion über die kommerzielle Ausrichtung des Christopher Street Days (CSD) zu. Im Zuge dieser Entwicklungen entstanden neue politische Gruppen und Aktionsformen. Projekte, die Jahre lang nebeneinander gearbeitet hatten, begannen sich gezielt miteinander zu vernetzen. Daraus resultierten Aktionen auf dem CSD ebenso wie eine Reihe von neuen Veranstaltungen wie die Queer Street Days. An der Planung und Vorbereitung beteiligten sich teilweise rund hundert Personen, die in der breiteren politischen Szene Hamburgs vernetzt waren, eigene Veröffentlichungswege (etwa Webseiten, Mailing-Listen, Fanzines und Radiosendungen) pflegten und einschlägige Orte für regelmäßige Diskussionen und Aktionsplanungen nutzten. Queer-feministische Themen hatten in der Zeit der Spitzeltätigkeit von Iris insofern einen hohen Grad an Sichtbarkeit (auch über die Grenzen der Stadt hinaus), und die Szene genoss eine hohe Glaubwürdigkeit innerhalb linker Strukturen.
re[h]v[v]o[l]lte radio war eine der Gruppen, die diese Entwicklungen kritisch begleitet haben, und die Polizeibeamtin war immer dabei. Darüber hinaus war sie in einer lesbisch-schwulen Kickboxgruppe, unterstützte das Ladyfest Hamburg und half bei Spendenpartys. Für die Lesbisch Schwulen Filmtage übernahm sie zum Beispiel stets verbindlich die Terminkoordination mit der Roten Flora für die jährlichen Benefizpartys. Auch an Diskussionen über sexuelle Identitäten, Polyamory und alternative Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens war Iris beteiligt.
Heute kommt natürlich die Frage auf, was die Polizistin in all den queer-feministischen Zusammenhängen zu suchen hatte, in denen ihre Legende sich aufhielt. Ihre Eingebundenheit in die lesbisch-queere Szene während dieser Jahre kann nicht losgelöst von ihrem Auftrag betrachtet werden – und ebenso wenig als Freizeitausgleich für ihre Ermittlerinnentätigkeit. Warum wurde in den Jahren 2001 und 2006 eine homosexuell lebende Beamtin eingesetzt? War es schlicht Zufall oder spielte ihre sexuelle Identität eine Rolle für ihren Ermittlungsauftrag? Und was war für LKA und/oder BKA von Interesse an unseren Diskussionen, Strukturen und politischen Aktionsformen?
Während es fester Bestandteil einer linksradikalen Sozialisation ist, jederzeit mit Ausspähung durch die Polizei zu rechnen, erschienen uns Spitzel in der breiteren feministischen und queeren Szene damals eher abwegig. Die Enttarnung von Iris Plate bedeutet insofern, sich nun damit auseinandersetzen zu müssen, was das staatliche Interesse an feministischen und queeren Diskussionen und Aktionsformen war und ist, und welche Effekte der verdeckte Polizeieinsatz in und für die Szene hat.

Vertrauen und Geschlecht
Publikationen und Veranstaltungen über Polizeieinsätze in der linken Szene setzen sich überwiegend mit heterosexuellen Männern als Verdeckten Ermittlern auseinander (vgl. z.B. Mohr/Viehmann (Hg), Spitzel. Eine kleine Sozialgeschichte, Assoziation A, 2004). Lässt sich daraus schließen, dass Spitzelei traditionell eher ein Betätigungsfeld für Männer ist? Oder werden Frauen einfach seltener erwischt? Ist Iris Plate nur eine unter vielen Frauen, die verdeckt operierten, aber eine der wenigen, deren Tätigkeit enttarnt wurde?
Bei der Durchsicht der Flugblattsammlung des Archivs für soziale Bewegungen scheint noch eine weitere Ebene auf: Werden die Fälle von Frauen als Spitzeln möglicherweise schneller verdrängt und weniger systematisch aufgearbeitet? Denn für den Hamburger Raum finden sich dort drei weitere Fälle von undercover tätigen Polizeimitarbeiterinnen vor Iris Schneider/ Iris Plate: die 1984 von Mitgliedern des „Frauenplenums gegen Munitransporte“ aufgedeckte BKA-Ermittlerin Martina Fietz, die 1990 enttarnte LKA Beamtin Christa Mahsmann/ Christina Manz, und die 1999 enttarnte, auch in Frauen-Lesben Kreisen aktive Staatsschutzmitarbeiterin Heike Cordes.
Es lässt sich spekulieren, ob der Einsatz von Frauen als Verdeckten Ermittlerinnen in der linken Szene für die Polizeibehörde auf spezifische Weise effektiv ist, da Frauen oft als unverdächtig gelten – eine gesellschaftliche Zuschreibung, die im Zusammenhang mit Frauen als Spioninnen in Kriegszeiten vielfach beschrieben worden ist. Aus unserer Perspektive kann man in jedem Fall sagen, dass man Frauen auf politischen Treffen eine beobachtende, viele Fragen stellende Rolle tendenziell eher abnimmt als Männern. Tatsächlich bewähren sich Frauen gerade in gemischtgeschlechtlichen Zusammenhängen oft durch ihre zuverlässige organisatorische Beteiligung, etwa das Koordinieren von Terminen, das Kümmern um Räume, das Vorbereiten von Veranstaltungen. Dies trifft wohl auch auf Iris zu, und hat möglicherweise dazu beigetragen, dass sie sich so lange, und auch nachdem der Verdacht gegen sie bereits laut geworden war, in der Szene halten konnte.
In der queer-feministischen Szene sind sexuelle Orientierung, sexuelle Kontakte und Beziehungen Teil des Zusammenlebens wie auch der politischen und theoretischen Auseinandersetzung, und es wäre für eine heterosexuelle cis-gendered Person wohl wesentlich schwerer gewesen, sich in so kurzer Zeit an so vielen Orten unhinterfragt zu bewegen. Auch in unserer Redaktionsgruppe, die sich mit den Machtverhältnissen in heteronormativen Gesellschaftsstrukturen auseinandersetzt, hatte es Iris mit ihrer Legende der feministischen, lesbisch lebenden Frau erheblich leichter, unser Vertrauen zu gewinnen als andere Personen. Es steht zu vermuten, dass ihr Gender und ihre sexuelle Orientierung Iris auch dann halfen, Schutz und Unterstützung einzuwerben, als der Verdacht aufkam, es könnte sich bei ihr um eine Polizeibeamtin handeln. Die Ermittlerin konnte eine in emanzipatorische Politiken eingeschriebene Lücke nutzen, derzufolge Gruppen wie unsere versuchen, Menschen gegenüber offen und unterstützend zu sein, die in der Gesellschaft strukturell weniger Chancen haben als die Norm.
Die Enttarnung von Iris Plate legt nahe, dass es lohnt, sich in Zukunft genauer damit auseinanderzusetzen, welche Bedeutung 1) geschlechtsspezifische und sexuelle Sozialisation und 2) gesellschaftliche Gender-Zuschreibungen in der Auseinandersetzung mit Polizeispitzeln haben.

Das Private ist professionell
Das private Miteinander spielt in linken Zusammenhängen eine große Rolle. Iris führte Freundschaften, Liebesbeziehungen und Affären in der queeren Szene. Sie hat bei vielen Gelegenheiten unsere Wohnungen betreten, zum Teil mehrmals die Woche. Sie hat mit uns Tee getrunken, Musik gehört, gepuzzelt und geplaudert. Wir fuhren mit ihr zum Ladyfest nach Bielefeld und diskutierten über die Bundestagswahl. Es ging so weit, dass Iris anlässlich eines Geburtstags mit uns in kleiner Runde zur Premiere des Stücks „Mädchen in Uniform“ am Volkstheater Rostock fuhr.

Von: Polizeibeamtin
Gesendet: Montag, 28. Februar 2005 11:10
An: xxx
Betreff: Re: theaterfahrt

liebste xxx,
muss ich doch erwähnen, dass ich diesen ausflug zu deinem geburtstag mit dir sehr gerne gemacht habe. es war mir sozusagen ein leichtes :-)
fühl dich gedrückt.
ix

Nachdem Iris in anderen Zusammenhängen mit dem Verdacht konfrontiert worden war, sie sei ein Spitzel (siehe dazu http://verdeckteermittler.blogsport.eu), kam sie zu einer von uns, weinte und verlangte, man solle sich für sie einsetzen. Als wir – ohne sie – darüber diskutierten, stellten wir schnell fest, es gab viele Gründe, die für den Verdacht sprachen: sie hatte immer Zeit, war in Gesprächen über Familie und Sozialisation auffällig zugeknöpft und verortete sich nicht in linker Kultur – so hatte sie zum Beispiel kaum Bücher oder Platten in ihrer Wohnung und keine Bilder an der Wand. Schnell war klar, sich für ihre Rehabilitation einzusetzen, kam für uns nicht in Frage. Aber uns öffentlich gegen sie auszusprechen und sie aus der Redaktion auszuschließen ebenso wenig – schließlich gab es letztlich keinen Beweis für ihre Tätigkeit bei der Polizei.
In Erinnerungen an die damalige Zeit wird uns heute klar, dass Iris ihre Verletztheit über den angeblichen Vertrauensbruch gezielt thematisiert und eingesetzt hat, um an unser Mitgefühl zu appellieren und Schuldgefühle und Sympathien in uns zu wecken.
Seit der Enttarnung von Iris Plate im November 2014 wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob sie eine gespaltene Persönlichkeit hatte – die Freundin, Genossin und Liebhaberin einerseits; die Lügnerin, Ausforscherin und Polizeibeamtin andererseits. Aber führt diese Frage nicht in die Irre? Eine Frau, die ihre Identitäten nicht bewusst unter Kontrolle gehabt hätte, wäre für ihren Beruf untauglich gewesen. Die Tätigkeit einer Verdeckten Ermittlerin basiert doch im Gegenteil darauf, anderen etwas vorzuspielen, sich ihr Vertrauen zu erschleichen, manche Dinge zu verheimlichen, andere zu verraten. Wenn man also psychologische Momenten nachgehen möchte, dann liegt nahe, sich zu fragen, wie Iris diesen Anforderungen gerecht geworden ist. Wie ist sie sozialisiert, ausgebildet und betreut worden, sodass sie über mehr als fünf Jahre persönlich und emotional involviert sein konnte ohne die Kontrolle über ihre Rollen zu verlieren?
Posten von Verdeckten Ermittlerinnen und Ermittlern werden offenbar oft behördenintern ausgeschrieben. Ob auch Iris sich auf ihre Tätigkeit bei uns beworben hat, wissen wir nicht. Aber aus der Innenausschusssitzung vom 9. Dezember 2014 ist bekannt, dass sie vor Beginn ihres Einsatzes am 1. August 2001, vom 20. April bis zum 31. Juli, eine vierteljährliche Vorbereitungszeit durchlaufen hat, zu der der Aufbau ihrer Tarnidentität sowie die operative Vorbereitung und Planung des Einsatzes gehörten. Während der Operation sei Iris täglich in Kontakt mit ihren VE-Führern gewesen, darüber hinaus scheint ein Team mit ihrem Einsatz befasst gewesen zu sein. In der Retrospektive gilt es insofern, sich mit Iris als Person auseinanderzusetzen, die sich im Alter zwischen 27 und 33 Jahren über einen außergewöhnlich langen Zeitraum tagtäglich für ihre Tätigkeit entschieden hat.

Re[h]trospektion
Seitdem wir wissen, dass unsere damalige Freundin und Redaktionskollegin Iris Schneider im wirklichen Leben die Polizeibeamtin Iris Plate war, haben wir uns auf Spurensuche begeben. Ad hoc wusste keine von uns, was in den Jahren zwischen 2000 und 2006 los gewesen war – in der Welt, in der Stadt, im Radio, bei uns. Wir saßen zusammen und versuchten uns zu erinnern. „Da war doch Schwarz-Schill.“ „Waren da nicht diese ganzen Kürzungen?“ „Ich glaube, das war auch die Zeit der Queer Street Days.“ „Nee, die waren doch vorher …“ „War Iris da schon dabei?“ Wir stellten fest, dass vieles vom Nebel der Zeit verschluckt worden war und es nun galt, es so weit in unsere Nähe zu holen, dass wir es wieder sehen konnten. Wir kramten durch Fotos und Kalender, durchsuchten Festplatten und CDs – eine nicht gerade angenehme Tätigkeit, zwingt sie einen doch dazu, sich damit auseinanderzusetzen, wer man damals war, wie man sich selbst und anderen vor rund zehn Jahren begegnet ist …
Das nun vorliegende Bild, das wir dank unserer Aufzeichnungen hier skizzieren konnten, weicht in so erheblichem Maß von den Darstellungen der Polizei im Hamburger Innenausschuss im Dezember 2014 und Januar 2015 ab, dass uns schleierhaft erscheint, wie es sich um dieselbe Sache handeln soll.
Folgt man den Ausführungen des Sicherheitsleiters der Polizei, Bernd Krösser, war Iris Plate ausschließlich in ihrer Funktion als Beamtin für Lagebeurteilung im FSK eingesetzt, was „vorrangig als sinnvoll zur Aufrechterhaltung und Absicherung ihrer Legende“ erachtet worden sei. Bei ihren Tätigkeiten im Rundfunk habe sie in Abstimmung mit ihren VE-Führern ausdrücklich Zurückhaltung geübt und lediglich Aufgaben und Termine wahrgenommen, die von außen an sie herangetragen worden seien. Während einer jüngst vorgenommenen Befragung gab die Beamtin zu Protokoll, „sie habe versucht, möglichst wenig eigene inhaltliche Beiträge zu gestalten und an Vorabtreffen für Sendungen teilzunehmen.“ Nach ihrer Erinnerung habe sie „keine fremden Beiträge kommentiert oder auf andere Entscheidungen bewusst und gewollt Einfluss genommen.“ Zur Aufrechterhaltung ihrer Legende habe die BfL Iris Plate, so heißt es weiter, auch Wohnungen betreten, aber nur selten und bis auf wenige spontane Situationen immer nach vorheriger Absprache mit ihrer Dienststelle. Einer ihrer ehemaligen VE-Führer „schätzt die Frequenz aus seiner Erinnerung auf vielleicht einmal im Monat“.
Für uns klingt das nach Ausweichmanöver und Schadensbegrenzung. Die Polizei gibt nur soviel zu, wie sie unter dem Druck der Öffentlichkeit zugeben muss, und versucht, den Großteil des politischen Skandals unter den Teppich zu kehren.

Diesen letzten Akt des Polizeidramas „Schneider-Plate Blamage“ möchten wir hiermit zurück in die Abteilungen Recherche/Lektorat/Rechtliches schicken: Iris Plate hat sich in unserer Radiogruppe aktiv und initiativ gezeigt, und sich in unseren Wohnungen getummelt. Im Zuge unserer Redaktionssitzungen, Vorbereitungstreffen und Sendungen hat sie Einblicke in Inhalte und Strukturen sowie über Personen erhalten, die für ihre Operationen von Nutzen sein konnten. Über ihre Mitarbeit bei re[h]v[v]o[l]te radio und dem „Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen“ sowie ihre aktive Beteiligung in den Organisationsstrukturen von FSK hatte sie einen tiefen Einblick in und Einfluss auf die Arbeit des Senders.
Kommunikation beruht auf Vertrauen. Pressefreiheit setzt Vertrauen unter den Mitgliedern einer Redaktion ebenso voraus wie Vertrauen gegenüber Interviewpartnerinnen und Informantinnen. Wenn eine Person an Redaktionsarbeit, Sendungsvorbereitung und -produktion beteiligt ist, die ohne das Wissen der anderen ihr Gehalt von der Polizei bezieht, wird die Pressefreiheit zur Farce.

(Erstveröffentlicht und Audios bei http://rehvvollte.blogsport.eu, PDF-Version ebenda )

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